Der Wecker klingelte wie jeden Morgen um sechs Uhr. Müde streckte ich die Hand aus und brachte das laute Ding mit einem gezielten Knall zum Schweigen. Sofort hörte dieser ohrenbetäubende Krach auf und ich ließ mich erleichtert wieder in die Kissen zurücksinken. Die Augen noch immer fest geschlossen, schwor ich mir wie jeden Morgen, dass dieses blöde Teil noch heute im Mülleimer landen würde. Natürlich würde das nicht passieren, aber allein die Vorstellung war herrlich. Ich hatte wie meistens absolut keine Lust aufzustehen, da ich von Natur aus ein ausgesprochener Langschläfer war. Wie immer, wollte ich mich einfach wieder zur Seite drehen und weiterträumen. Doch das war ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Hintern aus dem Bett zu schieben, um mich für einen weiteren harten Arbeitstag fertigzumachen. Auf meinem Bankkonto würde spätestens am Ende der Woche gähnende Leere herrschen, wenn ich nicht die Trinkgelder vom Diner kassierte. Diese Beträge, die in meinen privaten Geldbeutel flossen, waren zwar immer schwankend, doch ich plante diese „Almosen“, wie Rose sie stets liebevoll nannte, immer fest in meinen Haushaltsplan mit ein. Anders kam ich finanziell sonst nicht über die Runden.
Ich gähnte kräftig und starrte dann blinzelnd durch meine Wimpern hindurch zum Fenster. Draußen war es noch dunkel und es regnete. Die Tropfen klopften gleichmäßig auf die Fensterscheiben und ich suchte im Geiste schon nach den passenden Klamotten für Danny. Seine Regenjacke war ihm eigentlich schon fast zu klein, aber eine Weile würde es noch gehen. Seine Jeans hing noch am Wäscheständer im Bad, musste aber schon trocken sein. Dicker Pullover und seine festen Schuhe…überlegte ich weiter und merkte zeitgleich, wie der Regen massiv an Kraft zunahm. Das leise Schlagen steigerte sich zu einem drängenden Pochen und ich schnaubte genervt. Das Wetter in Seattle war so ätzend! Warum hatte es Danny und mich nur in eine Gegend verschlagen, in der die Niederschlagsrate so hoch war? Kopfschüttelnd setzte ich mich auf und streckte gähnend die Arme hoch über meinen Kopf. Ich zuckte kurz zusammen, als ich es leicht knacksen hörte. Du wirst alt, Bella, gestand ich mir ein und versuchte mit kreisenden Schulterbewegungen meine angespannte Muskulatur zu entspannen. Eine neue Matratze hätte sicher nicht geschadet, aber wenn nicht ein Wunder geschah und eine vom Himmel direkt in mein Bett fiel, dann musste es diese hier noch eine Weile machen.
Widerwillig kroch ich zur Bettkante, warf aber noch mal einen letzten sehnsüchtigen Blick zurück. Bis zur nächsten Möglichkeit mal eine Stunde länger als üblich zu schlafen, würde es noch eine ganze Weile dauern. Diese Woche musste ich wirklich jeden Tag früh aus den Federn, weil eine der Kellnerinnen an Grippe erkrankt war. Das hieß im Klartext: mein freier Samstag fiel ins Wasser. Glücklicherweise hatte Lou mich für die Frühschicht eingeteilt, so würde ich wenigstens am Nachmittag noch ein bisschen Zeit für Danny haben, ehe ich am Abend in den Nachtclub weiter musste. Dieser Nebenjob war zwar verdammt anstrengend, dafür aber recht lukrativ. Zumindest für meine bescheidenen finanziellen Ansprüche. Allein beim Gedanken daran, wie müde ich den ganzen Sonntag über sein würde, wenn ich erst in den frühen Morgenstunden aus dem Club kam, wurde mir schwindelig. Allerdings war der Sonntag wirklich der einzige Tag in der Woche, an dem ich nicht arbeiten musste und so ungestört Zeit mit Danny verbringen konnte. Lieber nahm ich es in Kauf, vor lauter Schwäche umzufallen, als auf eine einzige Minute mit meinem Sohn zu verzichten. Doch ich war auch nur ein Mensch und keine Maschine, und so wünschte ich mir ab und zu ein bisschen Zeit für mich. Es gab wenige Gelegenheiten, bei denen ich mich fallen lassen konnte und einfach Spaß hatte. Ich war Mutter, gute Freundin, Kellnerin und Mädchen für alles, aber keine Frau mehr. Mein Liebesleben blieb seit Dannys Geburt komplett auf der Strecke, was mir allerdings ganz recht war. Ich hatte Angst davor mich neu zu verlieben, weil ich nicht wieder so verletzt werden wollte wie damals. Dannys Vater hatte ganze Arbeit geleistet und mein Vertrauen in die Männerwelt war erschöpft. Doch das hinderte mich nicht daran, von der Liebe zu träumen und von einem Mann, der mich auf Händen trug.
Wenn es sich ergab, lag ich gerne im Bett und döste vor mich hin. Dann träumte ich von einem leichteren Leben, von einem Menschen, der es mit mir teilte. Ich war ohne Partner und hatte mir das selbst so ausgesucht, weil ich zu feige war, um etwas zu riskieren. Trotzdem vermisste ich ab und an eine starke Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. In manchen Nächten weinte ich mich in den Schlaf, weil ich Angst bekam. Angst davor, allein alt werden zu müssen, so wie meine Freundin Bibi. Sobald der Tag mit seinen Ablenkungen und Sorgen vorbei war und die Dunkelheit hereinbrach, sehnte mich nach jemandem, der mich auffing und mir Mut zusprach, wenn der Tag Scheiße gelaufen war. Leider waren die meisten Kerle eine absolute Katastrophe und liefen meilenweit davon, sobald sie die Worte „alleinerziehende Mutter“ bloß hörten. Allein hätten sie mich schon genommen, aber ein Kind kam nicht in Frage. So blieb es dabei, dass ich als Single durchs Leben ging und mich voll und ganz meinem Kind widmete – wenn ich mal nicht arbeiten musste.
Endlich raffte ich mich auf und schwang umständlich die Beine aus dem Bett. Mit tapsigen Schritten schlurfte ich in mein kleines Bad und schaffte es sogar, trotz meines immer noch recht verschlafenen Zustandes, nicht gegen die Tür zu rennen. Sie knarrte leise, als ich sie öffnete und ich betrat den winzigen Raum. Der Geruch von getrockneter Wäsche lag schwer in der Luft und ich kippte sofort das Fenster. Danach schob ich den Wäscheständer zur Seite, beugte mich leicht übers Waschbecken und putzte mir in aller Seelenruhe die Zähne. Während ich mit der Bürste ordentlich jeden Winkel meines Mundes schrubbte, sah ich mich ein wenig um. Manchmal fand ich die Enge in der Wohnung erdrückend, aber bei den horrenden Mietpreisen in Seattle, standen die Chancen gleich Null, dass Danny und ich uns jemals eine andere Wohnung würden leisten können. Selbst diese hier war kaum zu bezahlen. Am Monatsende wurde das Geld grundsätzlich knapp und ich hatte Mühe uns ordentlich durchzubringen. Danny war noch im Wachstum und ich achtete sehr auf eine möglichst gesunde Ernährung. Doch die war nun mal leider Gottes sehr teuer. Für mich hätten es auch Spaghetti mit Ketchup getan, aber für ihn wollte ich nur das Beste. Manchmal hatte ich Glück und ich erwischte noch die heruntergesetzten Waren vom Vortag. Sie waren immer noch gut genießbar und kosteten im Allgemeinen nur die Hälfte. Mit den Jahren war ich zu einer regelrechten Expertin geworden, wenn es darum ging, qualitativ hochwertige Waren zu erschwinglichen Preisen zu ergattern.
Es war immer wieder ein Kampf, doch für Danny nahm ich ihn gerne in Kauf. Was war schon ein regelmäßig überzogenes Bankkonto, gegen das zufriedene Lächeln meines Sohnes? Ich spuckte die Zahnpasta aus, spülte meinen Mund aus und stieg dann unter die Dusche. Während das Wasser über meinen Körper lief, dachte ich darüber nach, ob ich mir nächsten Monat ein paar Tage Urlaub gönnen sollte. Ich verbrachte viel zu wenig Zeit mit Danny und sein trauriges Gesicht, als ich den geplanten Samstag mit ihm absagen musste, hatte mir schwer ins Herz geschnitten. Wir brauchten einfach ein bisschen Zeit für uns. Seine Kindheit würde niemals wiederkommen und ich wollte unbedingt so viel wie möglich davon mitbekommen. Ja….Urlaub hörte sich wirklich gut an. Zwar würden mir dann die Trinkgelder fehlen, aber da sogar ich hin und wieder Glück hatte, stand eine kleine Steuerrückerstattung vom Finanzamt an. Von der könnte ich mir ein paar Dollar abzweigen, die nicht großartig ins Gewicht fallen würden. Der Rest der Summe würde wohl für die laufenden Versicherungen draufgehen. Ich beschloss mit Lou reden, um mir unplanmäßig eine Woche frei zu nehmen. So oft, wie ich im Diner als Notbesetzung einsprang, konnte er mir diese Bitte kaum abschlagen.
Das Diner…es war der erste Arbeitsplatz, an dem ich mich so richtig wohl fühlte. Das Schnellrestaurant befand sich mitten in der Innenstadt und war für mich zu einer zweiten Heimat geworden. Dort war ich Köchin, Bedienung und Mädchen für alles. Mein Boss war ein grundanständiger, schon etwas in die Jahre gekommener Kerl, der wie vereinbart meinen Lohn zahlte und außer Pünktlichkeit und Fleiß nichts von mir erwartete. Das war bei anderen Jobs nicht immer so gewesen. Meine früheren Arbeitgeber hatten allesamt versucht, mir nach einiger Zeit an die Wäsche zu gehen. Ich hatte nie kapiert warum, denn ich hielt mich nicht gerade für eine wandelnde Sexbombe. Doch offensichtlich war ich attraktiv genug, um in meinen Vorgesetzten den Wunsch zu wecken, mit mir ins Bett zu steigen. Diese widerlichen Typen hatten wirklich nichts Besseres zu tun gehabt, als ihre Drecksfinger überall auf meinen Körper zu legen. Meine Arbeitsverhältnisse endeten daher immer sehr zuverlässig nach einer saftigen Ohrfeige, die ich diesen Mistkerlen nach ihren Annäherungsversuchen verpasst hatte. Es kam nicht in Frage, mich für den Erhalt meines Arbeitsplatzes zu prostituieren, auch wenn das jedes Mal meine unmittelbare Kündigung zur Folge gehabt hatte. Die Jobbörse in der Tageszeitung mutierte schnell zu einer meiner Hauptlektüren und so war mein Blick eines Tages auf eine Anzeige gefallen, in der eine patente Servicekraft gesucht wurde. Den Job zu bekommen war kein Problem und heute war ich laut Lou, nicht mehr aus dem Diner wegzudenken. Ich war dort glücklich und fühlte mich gebraucht. Das tröstete mich über den Umstand hinweg, dass er nicht sonderlich gut zahlte. Dazu waren die Kosten, die das Diner verursachte, einfach zu hoch und ich wunderte mich ohnehin, wie sich das Restaurant noch halten konnte. Das Diner lebte im Grunde von seiner Stammkundschaft und ich kannte die meisten beim Namen. Personal und Gäste waren ein bisschen wie eine große Familie, und ich selbst hatte in meiner Kollegin Rose eine unglaublich gute Freundin gefunden. Deswegen suchte ich trotz der mäßigen Bezahlung nicht nach einer Alternative. Bei Lou wusste ich eben, woran ich war. Außerdem konnte ich in Notfällen sogar Danny stundenweise mitnehmen, was unter Umständen wirklich Goldwert sein konnte. Bis jetzt war ich mit dem Diner gut gefahren und ich hoffte, dass sich auch die momentan sinkenden Umsätze stabilisieren würden.
Nach dem Duschen huschte ich zurück ins Schlafzimmer, riss meinen Schrank auf und holte mir frische Unterwäsche, Jeans und einen Pullover heraus. Meine Gedanken wanderten währenddessen weiter zu Jasper Whitlock, meinem anderen Boss. Er und Lou waren so unterschiedlich wie Feuer und Wasser, aber sie hatten durchaus ihre Gemeinsamkeiten. Jasper war ein sehr zurückhaltender und kühler Zeitgenosse, aber er ließ seine Pfoten vom weiblichen Personal und sorgte auch dafür, dass es die Gäste seines Clubs taten. Immer wieder wurden einige dabei ausfallend und fingen an nach den Bedienungen zu grapschen, sobald der Alkohol sie ausreichend enthemmt hatte. Die Security hielt sie uns vom Hals, trotzdem musste man sich allerhand anhören und sich von diesen Superreichen auf der Nase herumtanzen lassen. Die Gäste waren allesamt Mitglieder der High Society in Seattle und der Umgang mit ihnen war alles andere als einfach. Vor allem die Männer benahmen sich hin und wieder wie Schweine und glaubten, sie könnten mit einer kleinen Kellnerin machen, was sie wollten. Doch die Frauen waren auch nicht viel besser. Der einzige Unterschied zu den Kerlen war, dass sie nicht versuchten einen körperlich zu bedrängen. Und doch… jede Sekunde ließen sie mich spüren, wie unbedeutend ich in ihren Augen doch war. Was war schlimmer? Wie Freiwild behandelt zu werden und ständig dummen Sprüchen und plumper Anmache ausgesetzt zu sein? Oder war es nicht noch übler, die Verachtung in den Augen der weiblichen Gäste lesen zu können? Der Unterschied war geringfügig, es schmerzte jederzeit, egal auf welche Weise man erniedrigt wurde. Trotzdem schluckte ich alles runter, denn ich war auf dieses zusätzliche Geld angewiesen.
Wäre ich nicht dringend auf das Geld angewiesen, dann hätte ich Jasper schon längst meine Kündigung auf den Schreibtisch geknallt. Er war kein schlechter Arbeitgeber, aber er konnte die Gesellschaft nicht verändern oder beeinflussen. Wenigstens konnte ich ein paar Rückstände mehr begleichen und das war mir den ganzen Ärger wert. Manchmal kam es mir so vor, als würden sich die Forderungen von selbst vermehren und der Stapel an unbezahlten Rechnungen würde mit der Zeit größer. Selbst die Steuerrückerstattung konnte nicht ausreichen, um alles auf einmal zu begleichen. Bald war die Krankenversicherung fällig, das Auto musste dringend repariert werden und Danny brauchte neue Schuhe. Geld regiert die Welt, dachte ich spöttisch. Ich wusste natürlich, dass Unmengen von Dollars auf einem Bankkonto einen nicht glücklich machen konnten, doch manchmal hätte ich mir schon mehr davon auf meinem eigenen gewünscht. Wie auch immer, ich musste mit meinem Budget zu recht kommen und überwiegend meisterte ich diesen Balanceakt recht gut. Gehungert hatten wir bis jetzt noch nicht und das war das Wichtigste. Nur wäre es schön gewesen, wenn ich Danny mehr hätte bieten können.
Danny.
Mein kleiner Sohn war der Sonnenschein in meinem Leben und der Grund, warum ich mich so abrackerte. Für ihn hätte ich noch zehn weitere Jobs angenommen, wenn ich ihm dadurch ein bisschen Luxus bieten konnte. Leider reichte es nie für viel. Mal ein Eis zwischendurch oder ein Kinobesuch waren durchaus drin, doch bei der Kleidung ging es schon los. Wir trugen beide Klamotten aus zweiter Hand, da ich mir die teuren Marken einfach nicht leisten konnte. Für den Moment war es noch okay, doch irgendwann würde er merken, dass seine Mitschüler sich optisch von ihm abhoben. Der Druck sich anzupassen, würde immer weiter anwachsen und damit der Wunsch nach den Dingen, die ich ihm nicht geben konnte. Wenn wenigstens Jake für ihn gezahlt hätte, wäre vieles leichter gewesen. Das feige Schwein hatte sich jedoch vor seiner Geburt abgesetzt und kümmerte sich überhaupt nicht um ihn. Ich war ganz auf mich alleine gestellt, nachdem auch mein Vater mich damals im Stich gelassen und aus seinem Leben verbannt hatte. Der Grund dafür war so simpel, wie erschreckend. Ich hatte mich geweigert abzutreiben und das reichte ihm als Grund, um mich auf die Straße zu setzen. Zum Glück hatte ich etwas Geld von meiner Mutter geerbt. Achtzehn Jahre alt und schwanger, war ich schließlich in Seattle gelandet und hier nicht mehr weggekommen.
Seufzend riss ich mich zusammen und versuchte nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Da gab es nichts, was ich vermissen konnte und so ging leise in Dannys Zimmer, um ihn zu wecken. Für einen Moment blieb ich am Türrahmen stehen und betrachtete versonnen seine kindlichen Gesichtszüge. Die weichen Wangen, das lockige braune Haar und die blasse Haut. Er sah Jake überhaupt nicht ähnlich, sondern kam ganz nach mir. Mein Herz zog sich vor lauter Liebe zusammen und mir wurde wieder ganz leicht zumute. Er war alles, was ich zum Glücklich sein brauchte. Zum Teufel mit den Männern und mit der Liebe. Ich hatte Danny und das reichte mir. Vorsichtig betrat ich den Raum und beugte mich über ihn. Zart rüttelte ich die schmächtigen Schultern und flüsterte leise in sein Ohr.
"Aufwachen, mein Schatz! Du musst aufstehen! Mommy muss dich zur Schule bringen."
Blinzelnd öffnete er die Lider und sah mich aus müden Augen an. Er rieb sich gähnend das Gesicht und schmatzte leicht. Das war so süß, dass ich grinsen musste.
"Mommy, ich mag noch nicht aufstehen. Kann ich nicht hierbleiben, ich bin auch ganz brav?"
Lachend schüttelte ich den Kopf.
"Schatz, du weißt das geht nicht. Dazu bist du noch zu klein. Mommy kriegt Ärger, wenn sie dich allein lässt."
"Och, Menno", murrte er. Er drehte sich auf den Rücken und setzte sich dann umständlich auf. Seinen Teddy hatte er wie immer im Arm und er gähnte noch einmal herzhaft. Ich zog die Decke von seinem Körper und sah dabei zu, wie er wie der Blitz vom Bett rutschte und ins Bad flitzte. Wenn Danny erstmal wach war, konnte nichts dieses Energiebündel mehr halten. Ich folgte ihm ins Bad, half ihm beim Waschen und passte auf, dass er sich auch ordentlich die Zähne putzte. Danach gingen wir zum Frühstücken in die Küche, wo wir beide unsere Cornflakes löffelten.
"Mommy, holst du mich von der Vorschule ab?", fragte er mich mit vollem Mund.
"Erst schlucken, dann reden", sagte ich automatisch.
Er nickte nur, weil er gerade wieder den Mund voll hatte.
"Ja, ich werde dich heute abholen“, antwortete ich schließlich und zerwühlte liebevoll sein Haar. „Bibi hat heute keine Zeit und ich komme dann an ihrer Stelle."
Bibi war unsere Nachbarin und meine mentale Stütze. Sie hatte sich meiner angenommen, als es mir richtig dreckig ging und ich nicht mehr wusste, wohin vor lauter Problemen. Sie half mir bis heute mit ihrer Lebenserfahrung und ihren Weisheiten weiter und war mein persönlicher Engel auf Erden. Außerdem passte sie völlig umsonst auf Danny auf, holte ihn von der Schule ab und versorgte ihn liebevoll solange, bis ich von der Arbeit kam. Ohne sie hätte ich wohl schon längst Probleme mit dem Jugendamt bekommen, oder wäre von der Fürsorge abhängig geworden. Nur durch ihre Hilfe konnte ich meinen Jobs nachgehen und sie tat es, weil sie uns beide liebte. Wir waren so etwas wie ihre zweite Familie, da sie ihre eigenen Kinder höchstens ein-oder zweimal im Jahr sah. Danny war völlig verrückt nach seiner Bibi und sah in ihr seine „Oma“.
"Oh, Mommy, gehst du dann mit mir in den Park?", jubelte er und fiel mir um den Hals.
Ich erwiderte die Umarmung und atmete tief den sauberen, süßen Kinderduft ein.
"Ja, mein Schatz. Aber jetzt iss deine Cornflakes zu Ende, sonst kommen wir noch zu spät."
Glücklich gehorchte er und bald schon machten wir uns auf den Weg. Nachdem wir nach einer aufreibenden Busfahrt an der Vorschule ankamen, wartete ich, bis er sicher im Gebäude verschwunden war, ehe ich mich wieder auf den Weg machte. Von hier aus ging ich zu Fuß und verzichtete auf den Bus, da ich so schneller war, als mit einem öffentlichen Verkehrsmittel. Ich musste mich wie immer ziemlich beeilen, um noch rechtzeitig im Diner anzukommen. Wenn Lou etwas hasste, dann war es Unpünktlichkeit. In der Hinsicht konnte er echt unangenehm werden. Den Rest der Strecke brachte ich also im üblichen Dauerlauf hinter mich und schlüpfte schließlich in letzter Minute, und mit nassen Füßen, durch den Hintereingang. Atemlos warf ich den Regenschirm in den Köcher, ließ im Laufschritt den Regenmantel von meinen Schultern gleiten und schnappte mir meine Uniform vom Haken. Es handelte sich hierbei um einen wirklich hässlichen cremefarbenen Kittel, an dem es nichts schön zu reden gab, doch ich war ja auf keiner Modenschau. Zumindest war er praktisch und ich musste meine eigene Kleidung nicht verwenden.
Kaum hatte ich meine „Tracht“ an, zog die Stempelkarte durch und wollte mich in die Küche schleichen, als die Bürotür aufging. Lou streckte seinen Kopf heraus, sah mich an und blickte dann demonstrativ auf die Uhr. Sein Gesicht wirkte aber keineswegs verärgert, sondern er zeigte seine übliche gutmütige Miene.
"Hey, ich bin immer noch pünktlich. Ich will nichts hören", sagte ich grinsend.
Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und drohte mir mit dem Finger.
"Beim nächsten Mal krieg ich dich, junge Dame!", neckte er mich und ich schob lächelnd meine Hände in die Taschen meines Kittels. Frech wippte ich auf meinen flachen Schuhen auf und ab, pustete mir ein störendes Haar aus meinem Gesicht und zuckte gleichmütig die Schultern.
„Wir werden ja sehen“, meinte ich keck und er schüttelte resignierend den Kopf.
Lou war ein Riese von einem Kerl. Er hatte frappierende Ähnlichkeit mit Popeye, dem Seefahrer, denn seine blankpolierte Glatze war so glatt, wie eine Billardkugel. Das einzige Haar an seinem Körper wucherte aus seinem Hemd den Hals hinauf, und ließ ihn sehr bedrohlich aussehen. Wer ihn aber kannte, der wusste, dass er keiner Fliege was zu Leide tun konnte. Ich sah flüchtig auf die Uhr und sah, dass es schon kurz nach acht Uhr war. Höchste Zeit um draußen aufzulaufen und die Gäste rein zulassen.
„Ich geh dann mal rein, Lou“, informierte ich ihn pflichtbewusst und er brummte nur zustimmend, ehe er wieder in seinem Büro verschwand. Ich ging ins Restaurant und sah schon Rose, die schon dabei war die ersten Tische abzuwischen. Nach einer kurzen Begrüßung half ich ihr dabei und schon kurz darauf, klopfte der erste Gast an die Tür und wollte sich sein Frühstück bestellen. Die nächsten Stunden wurden sehr hektisch, wie jeden Morgen, und ich sehnte eine Pause herbei. Um halb elf war es dann endlich soweit. Die zweite Schicht fing an und ich gönnte mir zusammen mit Rose einen Donut. Der Kaffee fehlte natürlich auch nicht und ich fühlte mich endlich wieder, wie ein menschliches Wesen. Ich biss gerade genüsslich in den Donut, als Rose sich nach einem Job im Club erkundigte.
„Sag mal, Bella“, fragte sie mit vollem Mund, „du arbeitest doch in diesem Club. Weißt du, ob die noch jemanden brauchen? Ich könnte ein bisschen Extrakohle vertragen."
Ich verschluckte mich beinahe und brauchte einen Moment, ehe ich antworten konnte.
"Willst du dir das ernsthaft antun? Die Typen, die dort rumlaufen, sind einfach schrecklich. Eingebildet und ohne Manieren. Bei deinem Aussehen wirst du dich vor dummen Sprüchen nicht retten können. Die graben ja selbst mich an, und ich bin weiß Gott nicht Miss Universum."
Böse sah sie mich an.
"Bella, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht so schlecht machen sollst? Du bist bildhübsch. Wie kommst du nur auf die Idee, du seist nicht attraktiv?"
"Vielleicht liegt es ja an der Tatsache, dass ich seit Dannys Geburt kein Date mehr gehabt habe."
"Bella, ich will dir ja nicht zu nahe treten. Aber ….der einzige Grund, warum du keine Dates hast, bist du selber. Dein ständiger „Lass ja die Finger von mir" Blick, verjagt selbst die mutigsten Männer. Du könntest Dutzende von Männern haben. Siehst du denn nicht, wie sie dich alle anstarren?"
Wenn sie damit die älteren Herren unter unseren Stammgästen meinte, hatte sie sicher recht. Aber die hätten jede Frau angestarrt, die jünger als sechzig war. Ansonsten konnte ich Rose´ Einschätzung meiner weiblichen Anziehungskraft nicht teilen. Ich war bestenfalls guter Durchschnitt. Nicht hässlich, aber auch nicht überwältigend hübsch. Normal eben. Außerdem…. nach der katastrophalen Beziehung mit Jake, hatte ich mit den Männern sowieso abgeschlossen. Der Kerl, der meinen Panzer durchbrechen konnte, musste schon ein besonderer Mann sein, oder noch geboren werden. Die Richtung, die das Gespräch einschlug, wurde mir unangenehm und ich wollte schnellstens über etwas anderes reden.
"Lass uns das Thema wechseln. Du weißt doch, dass ich mit Männern nichts mehr am Hut habe“, antwortete ich bestimmt und sie verdrehte wie üblich die Augen. Doch das störte mich nicht sonderlich, ich war es ja gewohnt. „Was den Job angeht, kann ich dich am Samstag Jasper vorstellen, wenn du magst. Ehrlich gesagt, der Club brummt gerade gewaltig und ein paar Hände mehr könnten nicht schaden. Mal sehen, was sich machen lässt. Mehr wie nein sagen kann er nicht und fragen kostet nichts."
Ihr Gesicht hellte sich auf, bei der Aussicht ein paar Dollar mehr zu verdienen. Sie war so wie ich, chronisch pleite.
"Ich danke dir dafür."
Sie umarmte mich fest, als plötzlich Lou in der Tür stand. Sein Gesicht wirkte zerknirscht und seine hellen Augen waren bittend auf mich gerichtet. Ich ahnte Böses.
"Bella, ich hab schlechte Nachrichten. Du musst heute eine Doppelschicht einlegen. Anna ist krank geworden und kann nicht kommen."
Er sah mich vorsichtig an und wartete auf meine Explosion. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wohin mit Danny? Wer sollte ihn abholen? Lou unterbrach diesen Strudel.
"Ich weiß, du wolltest was mit deinem Sohn unternehmen, aber ich brauche dich wirklich dringend hier. Und bevor du fragst….außer dir ist keine mehr frei oder nicht erreichbar."
Verdammt noch mal! Diese Ungerechtigkeit war so ätzend. Jedes Mal wenn ich mir was mit Danny vornahm, kam etwas dazwischen. Jetzt hieß es kurzfristig eine Betreuung für ihn zu organisieren und ihn wieder mal zu enttäuschen. Das Leben war manchmal schon hart.
Ich gähnte kräftig und starrte dann blinzelnd durch meine Wimpern hindurch zum Fenster. Draußen war es noch dunkel und es regnete. Die Tropfen klopften gleichmäßig auf die Fensterscheiben und ich suchte im Geiste schon nach den passenden Klamotten für Danny. Seine Regenjacke war ihm eigentlich schon fast zu klein, aber eine Weile würde es noch gehen. Seine Jeans hing noch am Wäscheständer im Bad, musste aber schon trocken sein. Dicker Pullover und seine festen Schuhe…überlegte ich weiter und merkte zeitgleich, wie der Regen massiv an Kraft zunahm. Das leise Schlagen steigerte sich zu einem drängenden Pochen und ich schnaubte genervt. Das Wetter in Seattle war so ätzend! Warum hatte es Danny und mich nur in eine Gegend verschlagen, in der die Niederschlagsrate so hoch war? Kopfschüttelnd setzte ich mich auf und streckte gähnend die Arme hoch über meinen Kopf. Ich zuckte kurz zusammen, als ich es leicht knacksen hörte. Du wirst alt, Bella, gestand ich mir ein und versuchte mit kreisenden Schulterbewegungen meine angespannte Muskulatur zu entspannen. Eine neue Matratze hätte sicher nicht geschadet, aber wenn nicht ein Wunder geschah und eine vom Himmel direkt in mein Bett fiel, dann musste es diese hier noch eine Weile machen.
Widerwillig kroch ich zur Bettkante, warf aber noch mal einen letzten sehnsüchtigen Blick zurück. Bis zur nächsten Möglichkeit mal eine Stunde länger als üblich zu schlafen, würde es noch eine ganze Weile dauern. Diese Woche musste ich wirklich jeden Tag früh aus den Federn, weil eine der Kellnerinnen an Grippe erkrankt war. Das hieß im Klartext: mein freier Samstag fiel ins Wasser. Glücklicherweise hatte Lou mich für die Frühschicht eingeteilt, so würde ich wenigstens am Nachmittag noch ein bisschen Zeit für Danny haben, ehe ich am Abend in den Nachtclub weiter musste. Dieser Nebenjob war zwar verdammt anstrengend, dafür aber recht lukrativ. Zumindest für meine bescheidenen finanziellen Ansprüche. Allein beim Gedanken daran, wie müde ich den ganzen Sonntag über sein würde, wenn ich erst in den frühen Morgenstunden aus dem Club kam, wurde mir schwindelig. Allerdings war der Sonntag wirklich der einzige Tag in der Woche, an dem ich nicht arbeiten musste und so ungestört Zeit mit Danny verbringen konnte. Lieber nahm ich es in Kauf, vor lauter Schwäche umzufallen, als auf eine einzige Minute mit meinem Sohn zu verzichten. Doch ich war auch nur ein Mensch und keine Maschine, und so wünschte ich mir ab und zu ein bisschen Zeit für mich. Es gab wenige Gelegenheiten, bei denen ich mich fallen lassen konnte und einfach Spaß hatte. Ich war Mutter, gute Freundin, Kellnerin und Mädchen für alles, aber keine Frau mehr. Mein Liebesleben blieb seit Dannys Geburt komplett auf der Strecke, was mir allerdings ganz recht war. Ich hatte Angst davor mich neu zu verlieben, weil ich nicht wieder so verletzt werden wollte wie damals. Dannys Vater hatte ganze Arbeit geleistet und mein Vertrauen in die Männerwelt war erschöpft. Doch das hinderte mich nicht daran, von der Liebe zu träumen und von einem Mann, der mich auf Händen trug.
Wenn es sich ergab, lag ich gerne im Bett und döste vor mich hin. Dann träumte ich von einem leichteren Leben, von einem Menschen, der es mit mir teilte. Ich war ohne Partner und hatte mir das selbst so ausgesucht, weil ich zu feige war, um etwas zu riskieren. Trotzdem vermisste ich ab und an eine starke Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. In manchen Nächten weinte ich mich in den Schlaf, weil ich Angst bekam. Angst davor, allein alt werden zu müssen, so wie meine Freundin Bibi. Sobald der Tag mit seinen Ablenkungen und Sorgen vorbei war und die Dunkelheit hereinbrach, sehnte mich nach jemandem, der mich auffing und mir Mut zusprach, wenn der Tag Scheiße gelaufen war. Leider waren die meisten Kerle eine absolute Katastrophe und liefen meilenweit davon, sobald sie die Worte „alleinerziehende Mutter“ bloß hörten. Allein hätten sie mich schon genommen, aber ein Kind kam nicht in Frage. So blieb es dabei, dass ich als Single durchs Leben ging und mich voll und ganz meinem Kind widmete – wenn ich mal nicht arbeiten musste.
Endlich raffte ich mich auf und schwang umständlich die Beine aus dem Bett. Mit tapsigen Schritten schlurfte ich in mein kleines Bad und schaffte es sogar, trotz meines immer noch recht verschlafenen Zustandes, nicht gegen die Tür zu rennen. Sie knarrte leise, als ich sie öffnete und ich betrat den winzigen Raum. Der Geruch von getrockneter Wäsche lag schwer in der Luft und ich kippte sofort das Fenster. Danach schob ich den Wäscheständer zur Seite, beugte mich leicht übers Waschbecken und putzte mir in aller Seelenruhe die Zähne. Während ich mit der Bürste ordentlich jeden Winkel meines Mundes schrubbte, sah ich mich ein wenig um. Manchmal fand ich die Enge in der Wohnung erdrückend, aber bei den horrenden Mietpreisen in Seattle, standen die Chancen gleich Null, dass Danny und ich uns jemals eine andere Wohnung würden leisten können. Selbst diese hier war kaum zu bezahlen. Am Monatsende wurde das Geld grundsätzlich knapp und ich hatte Mühe uns ordentlich durchzubringen. Danny war noch im Wachstum und ich achtete sehr auf eine möglichst gesunde Ernährung. Doch die war nun mal leider Gottes sehr teuer. Für mich hätten es auch Spaghetti mit Ketchup getan, aber für ihn wollte ich nur das Beste. Manchmal hatte ich Glück und ich erwischte noch die heruntergesetzten Waren vom Vortag. Sie waren immer noch gut genießbar und kosteten im Allgemeinen nur die Hälfte. Mit den Jahren war ich zu einer regelrechten Expertin geworden, wenn es darum ging, qualitativ hochwertige Waren zu erschwinglichen Preisen zu ergattern.
Es war immer wieder ein Kampf, doch für Danny nahm ich ihn gerne in Kauf. Was war schon ein regelmäßig überzogenes Bankkonto, gegen das zufriedene Lächeln meines Sohnes? Ich spuckte die Zahnpasta aus, spülte meinen Mund aus und stieg dann unter die Dusche. Während das Wasser über meinen Körper lief, dachte ich darüber nach, ob ich mir nächsten Monat ein paar Tage Urlaub gönnen sollte. Ich verbrachte viel zu wenig Zeit mit Danny und sein trauriges Gesicht, als ich den geplanten Samstag mit ihm absagen musste, hatte mir schwer ins Herz geschnitten. Wir brauchten einfach ein bisschen Zeit für uns. Seine Kindheit würde niemals wiederkommen und ich wollte unbedingt so viel wie möglich davon mitbekommen. Ja….Urlaub hörte sich wirklich gut an. Zwar würden mir dann die Trinkgelder fehlen, aber da sogar ich hin und wieder Glück hatte, stand eine kleine Steuerrückerstattung vom Finanzamt an. Von der könnte ich mir ein paar Dollar abzweigen, die nicht großartig ins Gewicht fallen würden. Der Rest der Summe würde wohl für die laufenden Versicherungen draufgehen. Ich beschloss mit Lou reden, um mir unplanmäßig eine Woche frei zu nehmen. So oft, wie ich im Diner als Notbesetzung einsprang, konnte er mir diese Bitte kaum abschlagen.
Das Diner…es war der erste Arbeitsplatz, an dem ich mich so richtig wohl fühlte. Das Schnellrestaurant befand sich mitten in der Innenstadt und war für mich zu einer zweiten Heimat geworden. Dort war ich Köchin, Bedienung und Mädchen für alles. Mein Boss war ein grundanständiger, schon etwas in die Jahre gekommener Kerl, der wie vereinbart meinen Lohn zahlte und außer Pünktlichkeit und Fleiß nichts von mir erwartete. Das war bei anderen Jobs nicht immer so gewesen. Meine früheren Arbeitgeber hatten allesamt versucht, mir nach einiger Zeit an die Wäsche zu gehen. Ich hatte nie kapiert warum, denn ich hielt mich nicht gerade für eine wandelnde Sexbombe. Doch offensichtlich war ich attraktiv genug, um in meinen Vorgesetzten den Wunsch zu wecken, mit mir ins Bett zu steigen. Diese widerlichen Typen hatten wirklich nichts Besseres zu tun gehabt, als ihre Drecksfinger überall auf meinen Körper zu legen. Meine Arbeitsverhältnisse endeten daher immer sehr zuverlässig nach einer saftigen Ohrfeige, die ich diesen Mistkerlen nach ihren Annäherungsversuchen verpasst hatte. Es kam nicht in Frage, mich für den Erhalt meines Arbeitsplatzes zu prostituieren, auch wenn das jedes Mal meine unmittelbare Kündigung zur Folge gehabt hatte. Die Jobbörse in der Tageszeitung mutierte schnell zu einer meiner Hauptlektüren und so war mein Blick eines Tages auf eine Anzeige gefallen, in der eine patente Servicekraft gesucht wurde. Den Job zu bekommen war kein Problem und heute war ich laut Lou, nicht mehr aus dem Diner wegzudenken. Ich war dort glücklich und fühlte mich gebraucht. Das tröstete mich über den Umstand hinweg, dass er nicht sonderlich gut zahlte. Dazu waren die Kosten, die das Diner verursachte, einfach zu hoch und ich wunderte mich ohnehin, wie sich das Restaurant noch halten konnte. Das Diner lebte im Grunde von seiner Stammkundschaft und ich kannte die meisten beim Namen. Personal und Gäste waren ein bisschen wie eine große Familie, und ich selbst hatte in meiner Kollegin Rose eine unglaublich gute Freundin gefunden. Deswegen suchte ich trotz der mäßigen Bezahlung nicht nach einer Alternative. Bei Lou wusste ich eben, woran ich war. Außerdem konnte ich in Notfällen sogar Danny stundenweise mitnehmen, was unter Umständen wirklich Goldwert sein konnte. Bis jetzt war ich mit dem Diner gut gefahren und ich hoffte, dass sich auch die momentan sinkenden Umsätze stabilisieren würden.
Nach dem Duschen huschte ich zurück ins Schlafzimmer, riss meinen Schrank auf und holte mir frische Unterwäsche, Jeans und einen Pullover heraus. Meine Gedanken wanderten währenddessen weiter zu Jasper Whitlock, meinem anderen Boss. Er und Lou waren so unterschiedlich wie Feuer und Wasser, aber sie hatten durchaus ihre Gemeinsamkeiten. Jasper war ein sehr zurückhaltender und kühler Zeitgenosse, aber er ließ seine Pfoten vom weiblichen Personal und sorgte auch dafür, dass es die Gäste seines Clubs taten. Immer wieder wurden einige dabei ausfallend und fingen an nach den Bedienungen zu grapschen, sobald der Alkohol sie ausreichend enthemmt hatte. Die Security hielt sie uns vom Hals, trotzdem musste man sich allerhand anhören und sich von diesen Superreichen auf der Nase herumtanzen lassen. Die Gäste waren allesamt Mitglieder der High Society in Seattle und der Umgang mit ihnen war alles andere als einfach. Vor allem die Männer benahmen sich hin und wieder wie Schweine und glaubten, sie könnten mit einer kleinen Kellnerin machen, was sie wollten. Doch die Frauen waren auch nicht viel besser. Der einzige Unterschied zu den Kerlen war, dass sie nicht versuchten einen körperlich zu bedrängen. Und doch… jede Sekunde ließen sie mich spüren, wie unbedeutend ich in ihren Augen doch war. Was war schlimmer? Wie Freiwild behandelt zu werden und ständig dummen Sprüchen und plumper Anmache ausgesetzt zu sein? Oder war es nicht noch übler, die Verachtung in den Augen der weiblichen Gäste lesen zu können? Der Unterschied war geringfügig, es schmerzte jederzeit, egal auf welche Weise man erniedrigt wurde. Trotzdem schluckte ich alles runter, denn ich war auf dieses zusätzliche Geld angewiesen.
Wäre ich nicht dringend auf das Geld angewiesen, dann hätte ich Jasper schon längst meine Kündigung auf den Schreibtisch geknallt. Er war kein schlechter Arbeitgeber, aber er konnte die Gesellschaft nicht verändern oder beeinflussen. Wenigstens konnte ich ein paar Rückstände mehr begleichen und das war mir den ganzen Ärger wert. Manchmal kam es mir so vor, als würden sich die Forderungen von selbst vermehren und der Stapel an unbezahlten Rechnungen würde mit der Zeit größer. Selbst die Steuerrückerstattung konnte nicht ausreichen, um alles auf einmal zu begleichen. Bald war die Krankenversicherung fällig, das Auto musste dringend repariert werden und Danny brauchte neue Schuhe. Geld regiert die Welt, dachte ich spöttisch. Ich wusste natürlich, dass Unmengen von Dollars auf einem Bankkonto einen nicht glücklich machen konnten, doch manchmal hätte ich mir schon mehr davon auf meinem eigenen gewünscht. Wie auch immer, ich musste mit meinem Budget zu recht kommen und überwiegend meisterte ich diesen Balanceakt recht gut. Gehungert hatten wir bis jetzt noch nicht und das war das Wichtigste. Nur wäre es schön gewesen, wenn ich Danny mehr hätte bieten können.
Danny.
Mein kleiner Sohn war der Sonnenschein in meinem Leben und der Grund, warum ich mich so abrackerte. Für ihn hätte ich noch zehn weitere Jobs angenommen, wenn ich ihm dadurch ein bisschen Luxus bieten konnte. Leider reichte es nie für viel. Mal ein Eis zwischendurch oder ein Kinobesuch waren durchaus drin, doch bei der Kleidung ging es schon los. Wir trugen beide Klamotten aus zweiter Hand, da ich mir die teuren Marken einfach nicht leisten konnte. Für den Moment war es noch okay, doch irgendwann würde er merken, dass seine Mitschüler sich optisch von ihm abhoben. Der Druck sich anzupassen, würde immer weiter anwachsen und damit der Wunsch nach den Dingen, die ich ihm nicht geben konnte. Wenn wenigstens Jake für ihn gezahlt hätte, wäre vieles leichter gewesen. Das feige Schwein hatte sich jedoch vor seiner Geburt abgesetzt und kümmerte sich überhaupt nicht um ihn. Ich war ganz auf mich alleine gestellt, nachdem auch mein Vater mich damals im Stich gelassen und aus seinem Leben verbannt hatte. Der Grund dafür war so simpel, wie erschreckend. Ich hatte mich geweigert abzutreiben und das reichte ihm als Grund, um mich auf die Straße zu setzen. Zum Glück hatte ich etwas Geld von meiner Mutter geerbt. Achtzehn Jahre alt und schwanger, war ich schließlich in Seattle gelandet und hier nicht mehr weggekommen.
Seufzend riss ich mich zusammen und versuchte nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Da gab es nichts, was ich vermissen konnte und so ging leise in Dannys Zimmer, um ihn zu wecken. Für einen Moment blieb ich am Türrahmen stehen und betrachtete versonnen seine kindlichen Gesichtszüge. Die weichen Wangen, das lockige braune Haar und die blasse Haut. Er sah Jake überhaupt nicht ähnlich, sondern kam ganz nach mir. Mein Herz zog sich vor lauter Liebe zusammen und mir wurde wieder ganz leicht zumute. Er war alles, was ich zum Glücklich sein brauchte. Zum Teufel mit den Männern und mit der Liebe. Ich hatte Danny und das reichte mir. Vorsichtig betrat ich den Raum und beugte mich über ihn. Zart rüttelte ich die schmächtigen Schultern und flüsterte leise in sein Ohr.
"Aufwachen, mein Schatz! Du musst aufstehen! Mommy muss dich zur Schule bringen."
Blinzelnd öffnete er die Lider und sah mich aus müden Augen an. Er rieb sich gähnend das Gesicht und schmatzte leicht. Das war so süß, dass ich grinsen musste.
"Mommy, ich mag noch nicht aufstehen. Kann ich nicht hierbleiben, ich bin auch ganz brav?"
Lachend schüttelte ich den Kopf.
"Schatz, du weißt das geht nicht. Dazu bist du noch zu klein. Mommy kriegt Ärger, wenn sie dich allein lässt."
"Och, Menno", murrte er. Er drehte sich auf den Rücken und setzte sich dann umständlich auf. Seinen Teddy hatte er wie immer im Arm und er gähnte noch einmal herzhaft. Ich zog die Decke von seinem Körper und sah dabei zu, wie er wie der Blitz vom Bett rutschte und ins Bad flitzte. Wenn Danny erstmal wach war, konnte nichts dieses Energiebündel mehr halten. Ich folgte ihm ins Bad, half ihm beim Waschen und passte auf, dass er sich auch ordentlich die Zähne putzte. Danach gingen wir zum Frühstücken in die Küche, wo wir beide unsere Cornflakes löffelten.
"Mommy, holst du mich von der Vorschule ab?", fragte er mich mit vollem Mund.
"Erst schlucken, dann reden", sagte ich automatisch.
Er nickte nur, weil er gerade wieder den Mund voll hatte.
"Ja, ich werde dich heute abholen“, antwortete ich schließlich und zerwühlte liebevoll sein Haar. „Bibi hat heute keine Zeit und ich komme dann an ihrer Stelle."
Bibi war unsere Nachbarin und meine mentale Stütze. Sie hatte sich meiner angenommen, als es mir richtig dreckig ging und ich nicht mehr wusste, wohin vor lauter Problemen. Sie half mir bis heute mit ihrer Lebenserfahrung und ihren Weisheiten weiter und war mein persönlicher Engel auf Erden. Außerdem passte sie völlig umsonst auf Danny auf, holte ihn von der Schule ab und versorgte ihn liebevoll solange, bis ich von der Arbeit kam. Ohne sie hätte ich wohl schon längst Probleme mit dem Jugendamt bekommen, oder wäre von der Fürsorge abhängig geworden. Nur durch ihre Hilfe konnte ich meinen Jobs nachgehen und sie tat es, weil sie uns beide liebte. Wir waren so etwas wie ihre zweite Familie, da sie ihre eigenen Kinder höchstens ein-oder zweimal im Jahr sah. Danny war völlig verrückt nach seiner Bibi und sah in ihr seine „Oma“.
"Oh, Mommy, gehst du dann mit mir in den Park?", jubelte er und fiel mir um den Hals.
Ich erwiderte die Umarmung und atmete tief den sauberen, süßen Kinderduft ein.
"Ja, mein Schatz. Aber jetzt iss deine Cornflakes zu Ende, sonst kommen wir noch zu spät."
Glücklich gehorchte er und bald schon machten wir uns auf den Weg. Nachdem wir nach einer aufreibenden Busfahrt an der Vorschule ankamen, wartete ich, bis er sicher im Gebäude verschwunden war, ehe ich mich wieder auf den Weg machte. Von hier aus ging ich zu Fuß und verzichtete auf den Bus, da ich so schneller war, als mit einem öffentlichen Verkehrsmittel. Ich musste mich wie immer ziemlich beeilen, um noch rechtzeitig im Diner anzukommen. Wenn Lou etwas hasste, dann war es Unpünktlichkeit. In der Hinsicht konnte er echt unangenehm werden. Den Rest der Strecke brachte ich also im üblichen Dauerlauf hinter mich und schlüpfte schließlich in letzter Minute, und mit nassen Füßen, durch den Hintereingang. Atemlos warf ich den Regenschirm in den Köcher, ließ im Laufschritt den Regenmantel von meinen Schultern gleiten und schnappte mir meine Uniform vom Haken. Es handelte sich hierbei um einen wirklich hässlichen cremefarbenen Kittel, an dem es nichts schön zu reden gab, doch ich war ja auf keiner Modenschau. Zumindest war er praktisch und ich musste meine eigene Kleidung nicht verwenden.
Kaum hatte ich meine „Tracht“ an, zog die Stempelkarte durch und wollte mich in die Küche schleichen, als die Bürotür aufging. Lou streckte seinen Kopf heraus, sah mich an und blickte dann demonstrativ auf die Uhr. Sein Gesicht wirkte aber keineswegs verärgert, sondern er zeigte seine übliche gutmütige Miene.
"Hey, ich bin immer noch pünktlich. Ich will nichts hören", sagte ich grinsend.
Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und drohte mir mit dem Finger.
"Beim nächsten Mal krieg ich dich, junge Dame!", neckte er mich und ich schob lächelnd meine Hände in die Taschen meines Kittels. Frech wippte ich auf meinen flachen Schuhen auf und ab, pustete mir ein störendes Haar aus meinem Gesicht und zuckte gleichmütig die Schultern.
„Wir werden ja sehen“, meinte ich keck und er schüttelte resignierend den Kopf.
Lou war ein Riese von einem Kerl. Er hatte frappierende Ähnlichkeit mit Popeye, dem Seefahrer, denn seine blankpolierte Glatze war so glatt, wie eine Billardkugel. Das einzige Haar an seinem Körper wucherte aus seinem Hemd den Hals hinauf, und ließ ihn sehr bedrohlich aussehen. Wer ihn aber kannte, der wusste, dass er keiner Fliege was zu Leide tun konnte. Ich sah flüchtig auf die Uhr und sah, dass es schon kurz nach acht Uhr war. Höchste Zeit um draußen aufzulaufen und die Gäste rein zulassen.
„Ich geh dann mal rein, Lou“, informierte ich ihn pflichtbewusst und er brummte nur zustimmend, ehe er wieder in seinem Büro verschwand. Ich ging ins Restaurant und sah schon Rose, die schon dabei war die ersten Tische abzuwischen. Nach einer kurzen Begrüßung half ich ihr dabei und schon kurz darauf, klopfte der erste Gast an die Tür und wollte sich sein Frühstück bestellen. Die nächsten Stunden wurden sehr hektisch, wie jeden Morgen, und ich sehnte eine Pause herbei. Um halb elf war es dann endlich soweit. Die zweite Schicht fing an und ich gönnte mir zusammen mit Rose einen Donut. Der Kaffee fehlte natürlich auch nicht und ich fühlte mich endlich wieder, wie ein menschliches Wesen. Ich biss gerade genüsslich in den Donut, als Rose sich nach einem Job im Club erkundigte.
„Sag mal, Bella“, fragte sie mit vollem Mund, „du arbeitest doch in diesem Club. Weißt du, ob die noch jemanden brauchen? Ich könnte ein bisschen Extrakohle vertragen."
Ich verschluckte mich beinahe und brauchte einen Moment, ehe ich antworten konnte.
"Willst du dir das ernsthaft antun? Die Typen, die dort rumlaufen, sind einfach schrecklich. Eingebildet und ohne Manieren. Bei deinem Aussehen wirst du dich vor dummen Sprüchen nicht retten können. Die graben ja selbst mich an, und ich bin weiß Gott nicht Miss Universum."
Böse sah sie mich an.
"Bella, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht so schlecht machen sollst? Du bist bildhübsch. Wie kommst du nur auf die Idee, du seist nicht attraktiv?"
"Vielleicht liegt es ja an der Tatsache, dass ich seit Dannys Geburt kein Date mehr gehabt habe."
"Bella, ich will dir ja nicht zu nahe treten. Aber ….der einzige Grund, warum du keine Dates hast, bist du selber. Dein ständiger „Lass ja die Finger von mir" Blick, verjagt selbst die mutigsten Männer. Du könntest Dutzende von Männern haben. Siehst du denn nicht, wie sie dich alle anstarren?"
Wenn sie damit die älteren Herren unter unseren Stammgästen meinte, hatte sie sicher recht. Aber die hätten jede Frau angestarrt, die jünger als sechzig war. Ansonsten konnte ich Rose´ Einschätzung meiner weiblichen Anziehungskraft nicht teilen. Ich war bestenfalls guter Durchschnitt. Nicht hässlich, aber auch nicht überwältigend hübsch. Normal eben. Außerdem…. nach der katastrophalen Beziehung mit Jake, hatte ich mit den Männern sowieso abgeschlossen. Der Kerl, der meinen Panzer durchbrechen konnte, musste schon ein besonderer Mann sein, oder noch geboren werden. Die Richtung, die das Gespräch einschlug, wurde mir unangenehm und ich wollte schnellstens über etwas anderes reden.
"Lass uns das Thema wechseln. Du weißt doch, dass ich mit Männern nichts mehr am Hut habe“, antwortete ich bestimmt und sie verdrehte wie üblich die Augen. Doch das störte mich nicht sonderlich, ich war es ja gewohnt. „Was den Job angeht, kann ich dich am Samstag Jasper vorstellen, wenn du magst. Ehrlich gesagt, der Club brummt gerade gewaltig und ein paar Hände mehr könnten nicht schaden. Mal sehen, was sich machen lässt. Mehr wie nein sagen kann er nicht und fragen kostet nichts."
Ihr Gesicht hellte sich auf, bei der Aussicht ein paar Dollar mehr zu verdienen. Sie war so wie ich, chronisch pleite.
"Ich danke dir dafür."
Sie umarmte mich fest, als plötzlich Lou in der Tür stand. Sein Gesicht wirkte zerknirscht und seine hellen Augen waren bittend auf mich gerichtet. Ich ahnte Böses.
"Bella, ich hab schlechte Nachrichten. Du musst heute eine Doppelschicht einlegen. Anna ist krank geworden und kann nicht kommen."
Er sah mich vorsichtig an und wartete auf meine Explosion. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wohin mit Danny? Wer sollte ihn abholen? Lou unterbrach diesen Strudel.
"Ich weiß, du wolltest was mit deinem Sohn unternehmen, aber ich brauche dich wirklich dringend hier. Und bevor du fragst….außer dir ist keine mehr frei oder nicht erreichbar."
Verdammt noch mal! Diese Ungerechtigkeit war so ätzend. Jedes Mal wenn ich mir was mit Danny vornahm, kam etwas dazwischen. Jetzt hieß es kurzfristig eine Betreuung für ihn zu organisieren und ihn wieder mal zu enttäuschen. Das Leben war manchmal schon hart.